Uwe M. Schneede

Das Werk und die Kunst

Angesichts der Tropfsteinmaschine von Bogomir Ecker stellt sich die Frage nach deren Werkcharakter, denn es handelt sich ja nicht um eine Skulptur und auch nicht um eine normale künstlerische Installation, sondern um eine Apparatur, die wie ein Sanitärsystem das ganze Haus durchzieht und zum größten Teil ebenso unsichtbar ist. Diese Apparatur bringt etwas hervor - und seien es nur 5 cm in 500 Jahren, also theoretisch rund 2 ½ mm in den ersten 25 Jahren – und wird wahrscheinlich deshalb eine Maschine genannt.

Aber um was für eine Art von Werk handelt es sich? Und warum ist diese Maschine oder Apparatur Kunst? Bogomir Ecker ist ein Künstler, aber die Behauptung, Kunst sei, was Künstler hervorbringen (Werner Haftmann) ist ebenso zweifelhaft wie die andere Behauptung, was im Kunstmuseum gezeigt werde, sei zwangsläufig zur Kunst deklariert (was uns die Duchamp-Rezeption weismachen wollte). Diese deduktive Herangehensweise bringt also nichts.

Neuer Anlauf, von Werken ausgehend: Die signalrot gestrichenen Objekte, die Bogomir Ecker 2009 klammheimlich in der Hamburger Hafencity anbrachte, sind nicht als Kunstwerke exponiert und ausgewiesen, sie fungieren als anonymes, ortsfestes Zubehör. Es könnten apparative Organe sein, man wähnt sich beobachtet und belauscht. (Abb. 1 und 2)

Abbildung 1
Abbildung 2

Das sind Werke, aber keine eigenständigen Kunstwerke, sie funktionieren nur in Abhängigkeit vom öffentlich gesetzten Träger, einer Ampelanlage oder einem Schilderpfosten, oder, wenn freistehend, durch den verkehrskommunikativen Kontext. Dort können sie so tun, als seien sie echt, d. h. funktional.

Die Tropfsteinmaschine ist zwar ebenfalls ein Werk (des Künstlers Bogomir Ecker), aber kein unabhängiges Kunstwerk, auch keine Applikation wie üblicherweise Kunst am Bau, sondern eine Intervention, ein Eingriff in den Bau, sie funktioniert abhängig vom Bau und doch selbstständig, und zwar de facto.

Sie ist also ein Werk, aber kein unabhängiges Kunstwerk, was man allein daran erkennt, dass es sich durch die Ortsgebundenheit allem Mobilen entzieht: dem Versetzen in andere Kontexte, dem Kunstmarkt, dem Ausstellungsbetrieb und dem Sammlerwesen.

Ich frage mich, ob Bogomir Ecker damit an Marcel Duchamp anknüpft. Der hatte nämlich 1913 die entscheidende Frage gestellt: „Kann man Werke machen, die nicht ‚Kunst-‘ sind?“ Also: Werke ohne Kunst?

Abbildung 3

Als Duchamp ein auf dem Boden seines Ateliers liegender Kleiderhaken im Lauf der Zeit zu stören begann, beseitigte er ihn nicht, sondern nagelte ihn am Boden fest, als hätte das Ding langsam und stillschweigend seinen Zustand gewechselt: der Gebrauchsgegenstand ging in ein Ready made über, das er ganz einfach Trébuchet nannte, Kleiderhaken (1917). (Abbildung 3)

Das höchste Ziel war erreicht: das Werk ohne Kunst. Ohne Kunstanstrengung kam es zustande, es hat sich ergeben und wurde dabei vom Künstler begleitet und bestätigt.

Man hat berichtet, dass Duchamp, als er seine Ausstellung 1965 in der Kestner-Gesellschaft Hannover besuchte, plötzlich über den auf dem Boden befestigten Kleiderhaken zu stolpern schien: „Er machte das auf so geschickte Weise, dass er uns alle täuschte und wir für einen Augenblick wirklich dachten, er sei gestolpert, und ihn stützen wollten“ (Wieland Schmied). Er setzte zum Stolpern an, als sei es kein Werk (schon gar kein Kunstwerk), sondern ein liegengebliebenes Alltagsobjekt. Für einen Moment tat er so, als könne er das Ready made in seinen Ursprungszustand zurückversetzen.

Dieses In-der-Schwebe-lassen zwischen Realität und Werk, zwischen Werk und Kunst war Duchamps eigentliches Thema.

Tatsächlich hat er selbst seine Ready mades kaum in Ausstellungen und nicht als Kunstwerke präsentiert. Wenn er sie zeigte, dann um die Schwebe aufrecht zu erhalten, so 1916 in einer New Yorker Galerie: „Ich hängte drei davon an einen Kleiderständer beim Eingang auf, und niemand bemerkte sie - sie dachten, es wäre eben etwas, das jemand vergessen hatte wegzunehmen - was mir viel Spaß bereitete.“

Abbildung 4

Dass die Ready mades wie ganz normale Dinge auftraten, schien ihm extrem wichtig. Erst die späteren Deuter machten die Ready mades zu Kunstwerken. Duchamp wollte den Zustand der Gegenstände in der Schwebe halten – um beides zu befragen: die Realität und die Kunst.

Den berühmten Flaschentrockner hat er nur ein einziges Mal ausgestellt, nämlich 1936 in der Exposition surréaliste d’objets in der Pariser Galerie Charles Ratton (und zwar nicht das ‚Original‘, sondern bezeichnenderweise einen Neuerwerb). (Abbildung 4)

Er war als ein gewöhnliches Stück aus dem Kaufhaus in einer Vitrine eingereiht beispielsweise unter mathematische Modelle, Naturobjekte wie Mineralien, objekthafte Kunstwerke, Hopi-Figuren und peruanische Keramik. Ganz im Sinne der alten Kunst- und Wunderkammern wurden die Gegenstände gleichrangig präsentiert, so dass die Gattungszuschreibung in jedem Fall offen blieb und also dem Betrachter überlassen war. Wohin gehörten das von einem Brand entstellte Objekt, die pelzüberzogene Tasse, das Straußenei, der profane Flaschentrockner?

Wir sind wieder bei Bogomir Ecker und der Tropfsteinmaschine. In einer Notiz des Künstlers zu deren Entstehung lautet der letzte Satz: „Die Schwebe des Möglichen, das ist es doch, was einen immer antreibt“. Da ist es wieder, das Stichwort „Schwebe“.

Abbildung 5

Bogomir Ecker hat im Lauf der Zeit häufig kleine Objekte miteinander kombiniert, sie gingen zurück „auf ein paar Sachen, die zusammenlagen“, sie seien „Fixierungen eines augenblicklichen Gedankens“. Er sei sich lange nicht sicher gewesen, ob sie tatsächlich Kunst seien. Ihr ganzes Gewicht erhielten sie erst, als er eine Vielzahl von ihnen auf einzelnen Konsolen als Ensemble im Museum präsentierte (etwa im Hamburger Bahnhof). Man merkt, wie auch er seine Objekte zwischen Realität und Kunst balancierte. (Abbildung 5)

Und wir sind bei der aktuellen Ausstellung FUTURA: Bogomir Ecker hat hier Kunstwerke, Artefakte, Naturalien (zum Beispiel Meteoriten) und alle möglichen Fundstücke ebenfalls auf einer Ebene zusammengebracht, ohne Gattungsabstufungen, ohne Kunst-Hierarchie. Er hat auf diese Weise das Mögliche und das Unmögliche in der Schwebe gelassen, vor allem den Kunstbegriff.

Abbildung 6
Abbildung 7

Gehen wir noch mal nach draußen, in die Hafencity. Durch reinen Zufall begegneten wir uns, als Bogomir Ecker im Blaumann gewissermaßen incognito seine Objekte illegal in der Hafencity an den Magellanterrassen anbrachte (ich hatte dort etwas ganz anderes zu tun): Nicht als Künstler, sondern als Techniker richtete er die Installationen ein, als seien es funktionale Geräte wie all die anderen bestehenden öffentlichen Vorrichtungen. Und wiederum stellt sich die Frage nach dem Werk und der Kunst. (Abbildung 6)

Nehmen wir nochmals einen neuen Anlauf: Im Unterschied zu den Modellen von Duchamp ist die Tropfsteinmaschine eine funktionierende Apparatur, ein funktionierendes Werk, wenn auch langsam und mit geringer physischer Effizienz bei hohem technischen Aufwand durchs ganze Haus.

Ich erinnere mich, weil ich mich mal eingehend mit alten figürlichen Automaten beschäftigt habe, an die Vogelzwitschermaschine, die sich der Ingenieur Salomon de Caus im Jahr 1615 ausdachte. (Abbildung 7)

Caus suchte hydraulische Lösungen für Ingenieurprobleme, er nutzte Wasser als Antrieb für ein Getriebe, das dem oben sitzenden kleinen Vogel Gezwitscher verlieh. Der große Aufwand und das Ingenieurswerk galten zwar nicht der Kunst, aber immerhin der Unterhaltung.

Das Wasserreservoir der Tropfsteinmaschine zeugt gleichermaßen von verborgenem, hohem technischen Aufwand: ein Ingenieurswerk ohne Kunst. Und die Tropfsteinmaschine als Ganzes ist auch ein Werk der Technikerfertigkeit, die auf die Kunstfrage eigentlich gar nicht angewiesen ist.

Aber warum stellt sich diese Frage trotzdem, und warum wird die Kunst in der Schwebe gehalten? Es scheint, als werde hier an einer spezifischen Art von Werk gearbeitet. Sein Ausgangspunkt ist in erster Linie die Skepsis gegenüber dem herkömmlichen Kunstwerk, einhergehend mit der Absage jeder großen Geste und der Scheu vor endgültigen, statuarischen Behauptungen. Gesucht wird ein anderer Weg für die Wirkung der künstlerischen Substanz, diesseits der gängigen Gattungen.

Dazu wurde eine Apparatur ersonnen, die aufgefangenes Regenwasser über mehrere Stationen in eine kleine Kalkablagerung überführt. Was das Werk ausmacht, ist dieser permanente Prozess.

Ich denke: Das Eigentliche steckt hier nicht in der physischen Apparatur, das Eigentliche ist der durch das Werk in Gang gesetzte Prozess. Er hakt sich unmittelbar in unseren Lebensprozess ein. So gelingt es ihm, unser Bewusstsein auf Trapp zu bringen, Gedanken zu provozieren („Bewusstseinsmaschine“); die Apparatur setzt alles daran, um unser Zeitgefühl zu aktivieren (von einer „Zeitmaschine“ spricht Johanne Mohs).

Die Maschine arbeitet also, um uns zu animieren, uns in ferne Zeiten hineinzudenken, die uns eigentlich fremd sind, sie arbeitet, um uns anzustiften, die Zukunft zu imaginieren: 500 Jahre! Der ganze technische Aufwand, das stete Tropfen und der kleine Stalagmit – sie sind der Anstoß für unser prozessuales Denken.

Das Entscheidende an dieser Maschine ist also nicht das Künstlerische in ihr selbst, sondern die Übertragung der erzeugten Energie auf die Nutzer.

Um es zugespitzt zu sagen: Vielleicht ist Tropfsteinmaschine ein Werk tatsächlich ohne ‚Kunst‘ im Sinne Duchamps, und zwar weil das Werk die künstlerische Substanz – das Imaginative – systematisch entlässt, nämlich uns überantwortet.

Uwe M. Schneede

Kleine Rede (bearbeitet) am 16. Januar 2022 anlässlich der 25jährigen Laufzeit der Tropfsteinmaschine in der Hamburger Kunsthalle / Galerie der Gegenwart